Transport nach Wuppertal


Am 8. Oktober 1944 und am 17. November umstellten Wehrmacht und deutsche Polizei Kirchen und Dörfer im niederländischen Gebiet Limburg. Kurz vor der Befreiung wurden noch Tausende Niederländer nach Deutschland verschleppt. Viele waren noch Kinder. Sie kamen zunächst in ein Durchgangslager in Wuppertal und wurden wie auf einem Sklavenmarkt weiter verteilt. Sie wurden zu Zwangsarbeit nach Wuppertal, Salzgitter, Duisburg,
Viersen und in viele andere Städte deportiert.

Auf dem Transport nach Wuppertal am 18.11.1944 kamen zahlreiche Niederländer ums Leben.

Spuren, die bleiben
Razzien und Deportationen im Herbst 1944 in Nord- und Mittel-Limburg
Dr. A.P.M. Cammaert
Auszugsweise übersetzt aus dem Niederländischen von Irmgard Knies
(übersetzt sind die Teile, die in Zusammenhang mit Wuppertal stehen)

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4. Nach Wuppertal

Ungefähr um halb zehn fuhr der Zug aus Roermond in Venlo ein. Die Wagen wurden abgekoppelt und hinter die bereitstehenden gehängt. SA-Leute suchten einen bequemen Platz in einem Personenwagen, in dem allerdings auch Männer aus dem südlichen Sektor saßen oder in den Gepäcknetzen lagen. Eine halbe Stunde später ertönte das Abfahrtssignal: „Plötzlich ein Knall, alle purzelten durcheinander. Der Zug fuhr mit einem Ruck an, zweitausend Mann mitschleppend. (...) Hunderte Venloer standen an den Gleisen und ermunterten die Männer durch Zeichen, aus dem langsam fahrenden Zug zu springen.“ Einige wagten den Sprung in die Dunkelheit. Das ging so weiter bis zum Bestimmungsort. Jedes Mal, wenn der Zug vor einer Kurve seine Geschwindigkeit verringerte oder an einer Station hielt, verschwanden Männer. Jemand donnerte mit einem zurückgelassenen Spaten die Gitterstäbe einer Luke los. Auch er entkam; aber der Nächste zwängte sich eilends wieder hinein, weil er einen entgegenkommenden Zug herannahen sah. Mit oder ohne Hilfe von deutschen Bürgern in der Grenzregion gelang es den meisten, innerhalb weniger Tage nach Hause zurückzukehren oder unterzutauchen.

In Grenznähe wurde in manchen Wagen unsere Nationalhymne, das Wilhelmus, angestimmt. Über Kaldenkirchen, Viersen und Mönchengladbach ging es immer tiefer nach Hitlerdeutschland hinein. Unsicherheit über das Ziel und abschweifende Gedanken an die Angehörigen beherrschten die Stimmung. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Während ein Scherz oder eine komische Bemerkung vorher die Spannung lösen konnte, herrschte nun bedrücktes Schweigen. Wohl wurde viel und intensiv gebetet, gesungen und beraten, denn obwohl Mitglieder der etwas größeren Dorfgemeinschaften über zwei oder mehr Wagen verteilt saßen, waren die ursprünglichen Beziehungen bisher größtenteils intakt geblieben. In verschiedenen Wagen empfahlen Männer mit einiger Führungserfahrung den Orts- und Nachbargemeinschaften den zu so vielen und so lange wie möglich zusammenzubleiben. Das machte immer stärker und solidarisierte womöglich noch mehr als mit Fremden. Das hatte einiges für sich. Irgendwann in dieser Phase, oder nicht viel später, wurden so oder so Vorschläge dieser Tragweite in Verabredungen umgesetzt. Freundesgruppen machten es ebenso.
Abgesehen von dem Zufall, dass der Luftraum über der Strecke diese nacht ziemlich ruhig blieb, waren die Verhältnisse äußerst miserabel. „Sobald wir die Grenze passiert hatten, bekamen wir anstelle von hölzernen eiserne Bohlen unter die Schienen. (...) Es rumpelte, als ob die Wagen viereckige Räder hätten. In allen möglichen und unmöglichen Haltungen versuchten wir, es unseren Gliedmaßen so bequem wie möglich zu machen. Mal durch Stehen, dann wieder durch Hocken.“ Von Ausruhen konnte keine Rede sein: „Alle waren todmüde und lagen einer auf dem anderen, aber vor Hitze und Durst konnte keiner schlafen.“ Während es in dem einen Wagen nach halsbrecherischer Arbeit endlich gelang, die Schiebetür zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, kämpften die Männer in einem folgenden Wagen mit einem gegenteiligen Problem: „Immer nur dieselbe Haltung und fürchterlich kalt. Längst nicht jeder hat eine Decke oder einen warmen Mantel.(...) Leere Bierflaschen, Feldflaschen und Butterbrotpapier mit kleinem und großem Geschäft machen die Runde und werden im nächtlichen Dunkel durch die engen Gitter nach draußen gekippt.“
Mitten in der Nacht passierte der Zug die Rheinbrücke zwischen Neuss und Düsseldorf. „Durch die Ritzen starrten wir in die mondhelle Weite. Als wir an Dörfern und Städten vorbeifahren, sehen wir die Ergebnisse der englischen Bombenangriffe.“ Vor allem Düsseldorf bot einen trostlosen Anblick: „Wir sahen nichts als ausgebrannte und eingestürzte Häuser. Es war fürchterlich.“ Es war noch stockdunkel, als der Zug die Station Wuppertal-Varresbeck erreichte. „Die Türen werden entriegelt. ,Heraus! Herauskommen!’, werden wir bissig angeschnauzt. Dem schenken wir gern Gehör, denn wir sind wie gerädert und schnappen nach Luft, wollen aus dem schmutzigen Güterwagen hinaus.“ Der Zug war abgesperrt durch eine Kette von Grünen Polizisten, Soldaten und SS-Leuten mit Furcht erregend bellenden Hunden, bereit zuzuschnappen. Parteibeamtinnen begutachten ihre Limburgische Beute, und Befehle schallten in der Runde. Die „Holländischen Partisanen“ mussten sich in 5er-Reihen aufstellen. Unter bewaffneter Eskorte verließen sie das Gelände. Erschöpft stolperten sie vorwärts auf einem hell erleuchteten Weg neben einer Dornenhecke. Jemand bückte sich, um eine Zigarettenkippe aufzuheben. Das Bajonett eines Bewachers durchschnitt seine Finger. Weiter ging es, weg von der geschlossenen Ortschaft, bis nach einigen Kilometern die Umrisse eines Lagers sichtbar wurden. Das mit hölzernen und steinernen Baracken bebaute Gelände war von einem 4 m hohen elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umgeben.
Hunde mit womöglich noch böser blickenden Herren und ein Wachturm mit bewaffneten Bewachern vervollständigten das Bild. Dies konnte nichts anderes sein als ein Konzentrationslager, meinten viele; so viel Bedrohung wie davon ausging, so Angst einjagend wie es wirkte! Obwohl es so aussah, die Limburger kamen nicht in einem KZ an, sondern im Durchgangslager „Am Giebel“. Übrigens stimmte nur der Name: Dieses Nazi-Produkt lag tatsächlich auf einem kleinen Hügel. (29)
Abgesehen von dem beschissenen Transport versteht es sich, dass die hier geschilderten Reiseerfahrungen nicht wesentlich von späteren abwichen.

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4. Die Fahrt nach Wuppertal

Obwohl die übermächtige alliierte Luftwaffe alles daransetzte, den deutschen Bahnverkehr lahm zu legen, gelang es der Reichsbahn ein ums andere mal, die wichtigsten Strecken provisorisch auszubessern. Zigtausend Zwangsarbeiter waren bei Nacht und Nebel mit dieser Arbeit beschäftigt. „Räder müssen rollen für den Sieg“, lautete der Slogan – und zwar um jeden Preis. Um den Nachschub vom Brückenkopf am westlichen Maasufer abzuschneiden, flogen Jagdbomber oder „Jabos“ nicht nur Angriffe auf die Brücken bei Venlo und Roermond, auch Eisenbahnlinien und der Zugverkehr im Hinterland wurden seit Anfang Oktober unablässig mit (Brand-)bomben beworfen. Ein Grenzort wie Viersen hatte seitdem durchschnittlich 350mal Fliegeralarm pro Monat zu verbuchen. „Von 7 Uhr morgens bis zum Einbruch der Dunkelheit überfliegen in ununterbrochener Folge Jabos unser Gebiet,“ schrieb ein Grenzbewohner vom 18. zum 19. November in sein Tagebuch. (48) In diesen Tagen fuhr ein Zug mit Deportierten aus Limburg durch das betreffende Gebiet.

Tempo konnte die Lok nach der Abfahrt aus Venlo nicht machen. Zuerst mussten der Kaldenkirchener Berg und eine scharfe Kurve passiert werden. Im Zuckelgang und stoßweise wurden die Hindernisse genommen. Einer der Insassen überlegte nicht und ließ sich durch die Ventilationsluke aufs Dach hieven. Halsbrecherische Arbeit war nötig, um die Schiebetür zu entriegeln, aber es glückte. Unter einem Kugelregen verschwanden einen Augenblick später dreizehn Männer in der Dunkelheit. Ein Einzelner zog sich bei der Landung eine Verletzung zu, aber niemand wurde getroffen. Blieb die Gruppe anfangs beieinander, würden schließlich die meisten ihre eigenen Wege gehen. (49)
Nach stundenlangem Aufenthalt gleich hinter der Grenze ging es weiter nach Kaldenkirchen. Dort wurden die Wagons auf ein Nebengleis zwischen zwei Militärzüge rangiert. Stehend, in durchweichten Kleidern verbrachten die hungrigen und durstigen Männer den Rest der Nacht. Die mitreisenden Geistlichen versuchten ihnen Mut und Vertrauen auszusprechen oder beteten mit ihnen; aber aus Schlafen wurde natürlich nichts. Wer gut hinhörte, konnte in der Ferne das Gedröhne an der Maasfront hören.
Der 18. November versprach ein sonniger Tag zu werden. Zunächst zeigten die „Grünen“ sich von einer anderen Seite. Sie sorgten für ein paar Sitzbänke, Wasser und Brot und nach einigem Palaver sogar für ein Bündel Stroh, um es auf dem Boden auszubreiten. Wer seine Notdurft verrichten musste, fand einen Platz zwischen den Wagons. Über dem Gelände kreisende alliierte Flugzeuge vervollständigten das Treiben, doch zu jedermanns Erleichterung verschwanden sie wieder. Kurz vor Mittag wurde eine Lok vor den Zug gespannt. Einsteigen,“ klang es einen Augenblick später. Einige Wagen wurden verriegelt, andere nicht.

Zugbeschuss
Nach einer halben Stunde, der Zug war gerade durch den kleinen Bahnhof von Breyell gefahren, wirbelten Streifen von Silberpapier herunter, die bezweckten, das deutsche Radar zu stören. Im selben Augenblick kamen etwa sechs alliierte Jagdbomber im Tiefflug heran. Sie eröffneten das Feuer über die ganze Länge des Zugs, der mit einem Ruck zum Stehen kam. „Auf einmal ein Rattern, dass uns Hören und Sehen verging. Niemand wusste, was los war. Die grüne Polizei riss die Türen auf, und wir sahen Stichflämmchen den Zug entlang niedersprühen. ,Raus und in Deckung,’ schrie ein Pater. Ich ließ mich dicht an der Bahnstrecke fallen, und ein Grüner Polizist fiel auf mich. So war die ,Deckung’ vollkommen, dachte ich in dem Moment.“ Überall das gleiche Bild. „Auf einmal flogen ein paar Kugeln durch den Wagen. Wir sahen Holz splittern. Weil alle auf dem Fußboden saßen, wurde niemand verletzt. Unser Wächter riss die Tür auf. ,Raus,’ schrie er. Zwei Flugzeuge schossen herunter und warfen Bomben ab.“

Der erste und letzte Wagen wurden am schwersten getroffen. Von einem blieb nicht viel übrig. „Durch Dach und Wände drangen die Kugeln ein. Es gab einen Toten. Jemand neben mir bekam eine Kugel in den Unterarm, und einem anderen Jungen schossen sie einen Teil der Augenbraue weg. Es dauerte alles zusammen etwa einige Minuten, aber es macht dich um zehn Jahre älter.“ Überall klang Geschrei und Jammern von Verletzten, vermischt mit Verzweiflungsschreien von denen, die noch eingeschlossen waren. Es gelang nicht, jeden rechtzeitig aus seiner misslichen Lage zu befreien. Wer konnte, suchte Deckung an der Bahnböschung, einem Wäldchen in der Nähe oder sank bis zu den Knien in das morastige Gelände ein. Es blieb keine Zeit, sich von dem Schreck zu erholen, denn fast sofort kehrten die Flugzeuge zum nächsten Tiefflug zurück. Es wurde gebetet und wieder gebetet. Erneut gab es Opfer. „Nach dem ersten Angriff wollte ich weglaufen, aber zu meinem Erstaunen kehrten sie noch einmal zurück. Die Bomben kamen direkt auf mich zu, und ich dachte, dass es mit mir zu Ende sei. Zum Glück schlugen sie ein Stückchen weiter ein Loch in den Boden, so dass ich nur den aufgeworfenen Sand über mich bekam.“ Andere hatten weniger Glück. So schlug ein Splitter jemandem das Bein entzwei. Die Männer in dem Wäldchen saßen wie Ratten in der Falle. Sie bekamen ihr Fett ab. Um einer Massenflucht zuvorzukommen, schossen die Bewacher in die Luft. Das Chaos war komplett.

Tote und Verwundete
Neue Angriffe blieben vorerst noch aus. Selbstredend verlief die erste Hilfe mangelhaft. Mit einem Minimum an Mitteln mussten Dutzende von Verletzten verbunden und transportiert werden. Unterstützt von Freunden und Verwandten der Opfer versuchten die Geistlichen so viele Leben wie möglich zu retten.
Für den 16-jährigen Louis Rutten aus Oirlo kam die Hilfe zu spät. Der Junge hatte übrigens mit seinem Onkel, dessen Frau hochschwanger war, den Platz getauscht. Seine sterbliche Hülle wurde in eine Decke gewickelt und auf einen Wagen vom Roten Kreuz gelegt. Jan Lommen aus Geyseteren, Johannes Joosten aus Blitterswijk und ein Beamter der Grünen Polizei erlagen ebenfalls an Ort und Stelle ihren Verletzungen. Abgesehen von Louis Rutten – er fand seine letzte Ruhestätte in einem namenlosen Grab – wurden die Limburger Toten in Breyell bestattet, um nach dem Krieg in ihrer Heimatstadt beerdigt zu werden. G. Nelissen aus Oirlo, G. Versleyen aus Tienray, L. Calon, der in Castenray untergetaucht war, J. Vermazeren aus Wanssum und L.C. Janssen aus Oosterum waren dermaßen übel dran, dass auch um ihr Leben gefürchtet werden musste. Aus dem Wäldchen wurden die Toten und Verletzten in einen Bauernhof gebracht. Leo Nelissen wich nicht von der Seite seines Bruders Gerard. „Ich habe mein Hemd in Streifen gerissen und so versucht, die Wunden zu verbinden. Sein rechtes Schienbein war getroffen und sein linker Oberschenkel. Eine Wunde ließ sich nicht verbinden, sie saß zu hoch. Mein Neffe Jos Vollebergh lag dicht neben ihm mit seinem Schuss durchs Handgelenk und Augen voller Blut. Sein Handgelenk habe ich ebenfalls abgebunden und ihn zunächst in das Wäldchen gebracht. Zurück bei Gerard kreuzten die Flieger in großen Kreisen über uns. Wie Geier, die über dem Aas kreisen. (...) Louis Rutten, noch keine 15 Jahre alt, lag tot mit zerschossenem Kiefer. Calon, ein Untergetauchter, lag mehr tot als lebend. Gerard wurde immer bleicher und fragte nach den anderen.“
Inzwischen waren ein Arzt und ein Pfleger angekommen. Leo Nelissen: „Jetzt, da die Gefahr geringer war, lief ich zum Wäldchen, um die anderen zu warnen, und rief zugleich einen Pater, der mir auch eine Rolle Verbandmull gab. Ich bat einen Grünen Polizisten nach einem seiner Kameraden zu sehen, aber er schien es satt zu haben, da er hörte, dass auch ein ,Grüner’ sein Leben gelassen hatte. Der Pater erteilte den Jungen die Absolution, und das beruhigte sie wieder etwas. Inzwischen wurden Leitern gebracht, auf die etwas Stroh gelegt wurde, und die Verwundeten wurden vorsichtig draufgeschoben. So sollten sie ins Krankenhaus gebracht werden. Gerard ging es viel schlechter, als wir annahmen. Wir versuchten, ihm Mut zu machen. ,Wir gehen alle zusammen wieder nach Hause!’ ,Nein, ich sterbe, das fühle ich. Es war so toll, alle zusammen in einem Hühnerstall. Bleibt ihr bei mir?’ Es wurde zwar versprochen, aber wie konnte das verwirklicht werden? Not lehrt beten, und wir haben gebetet! Gerard bat um seinen Rosenkranz. Am Waldrand, beim Bauernhof, stand ein schwerer LKW bereit, um die Freunde ins Krankenhaus zu bringen. Inzwischen waren die Flugzeuge wieder da. Endlich konnte der LKW abfahren. Durch das Rumpeln des Wagens litten die Verwundeten arge Schmerzen. Bei einem Verbandposten im Breyell wurde Halt gemacht. Hier wurden die Namen der Freunde aufgenommen, und nach einer Viertelstunde ging es wieder weiter. Es wurde erneut an einem Rotkreuz-Verbandplatz gehalten; aber sie waren zu schwer verwundet, als dass ihnen da hätte geholfen werden können. Endlich ging es zum Krankenhaus. Ein Rotkreuzwagen fuhr voraus, denn es waren noch immer Tommys in der Luft. Am Straßenrand standen bestimmt sieben bis zehn PKWs, auf die geschossen worden war. Mehrere kleine Fabriken brannten lichterloh. Sie hatten fürchterlich gehaust. Im Krankenhaus trugen wir Gerard auf den Flur, auf dem auch die anderen Verwundeten lagen. Von hier aus wurden sie mit dem Aufzug nach oben gebracht. Gerard sagte da schon nichts mehr, nur den Rosenkranz, der zwischen die Decke gefallen war, wollte er wiederhaben. Noch einmal fragte eine Schwester nach den Namen. Dann kam ein Grüner Polizist und befahl uns mitzugehen. Wie fragten, ob wir warten dürften, bis Gerard auf einem Zimmer lag. Das ginge nicht, sagte die Bestie. Gerard war sehr bleich, seine Hände und sein Gesicht waren durch und durch kalt. Es bestand wenig Hoffnung; das konnten wir schon feststellen. Wieder auf den Wagen, zurück an den Ort des Unglücks.“ Nelissen starb kurze Zeit später in einem Düsseldorfer Krankenhaus.

Auch L. Calon schaffte es nicht. Er starb im St.-Cornelius-Hospital in Dülken, wohin er mit etwa 20 anderen gebracht worden war. Nach einem Bombenangriff Ende November war das Krankenhaus überfüllt, und die Schwerstverwundeten J. Vermazeren und L. Janssen wurden nach Viersen verlegt. Die Übrigen folgten kurz vor Weihnachten. Alle erlebten die Befreiung am 28. Februar ‚45. Zehn Verwundere wurden vom Unglücksort ins Krankenhaus von Breyell transportiert. Da bekamen sie bald Besuch von Mien Hovens. Sie gehörte zu einer örtlichen niederländischen Siedlung und hatte Verwandte in Tienray. Durch Vermittlung ihres Vaters, einem geachteten Breyeller Bürger, genossen sie von da an besondere Pflege. Für G. Versleyen kam diese leider zu spät, er starb nach einigen Tagen. Um eine drohende Verlegung der übrigen neun Männer in ein Krankenhaus in Frankfurt/Oder abzuwenden, nahm Hovens mit dem Breyeller Bürgermeister Kontakt auf. Sie der Gefahren bewusst erklärte Hovens sich bereit, die neun auf Wunsch mit Pferd und Wagen nach Tegelen ins Krankenhaus zu bringen. Sowohl die Verwundeten als auch der Bürgermeister stimmten dem Vorschlag zu. Unversehrt erreichten sie Limburg.

Nochmals beschossen
Kehren wir zurück zum Zug. Nachdem die Toten und Verwundeten weggebracht worden waren, mussten die Männer wieder in die Wagons. Unter der Bedingung, dass niemand einen Fluchtversuch unternahm – die Pater mussten sich dafür verbürgen – durften die Schiebetüren offen bleiben. Auf der Höhe von Boisheim, einige Kilometer weiter, ging es zum zweiten Mal schief. Sechs Jagdbomber nahmen die Wagons unter Beschuss und warfen je vier Bomben ab. In fliegender hast sprangen alle aus dem Wagen. Das kahle Gelände bot keine einzige Deckung. Hinlegen, riefen einige Bewacher noch, aber sogar ihre Kollegen hatten davon genug und flüchteten in Richtung auf einen Bauernhof. Rund um den Zug brach die Hölle los: „Ich spürte eine gewaltige Erschütterung, und sechs Meter von mir entfernt explodierte eine Bombe. Sand und Lehm fielen auf mich. Schnell aufgestanden und in das Loch; es dampfte noch. Eine unbeschreibliche Angst. (...) Beten und nochmals beten.“ Einige wurden durch den Luftdruck hochgeschleudert. Doch wurde, so weit bekannt, niemand verletzt. Als alles vorbei war, wurden die Männer in einem Wald zusammengetrieben, um dort den Abend abzuwarten. Der fantastischste unter den „Grünen“ versuchte den Patern die Schuld an der großen Anzahl der Geflüchteten n die Schuhe zu schieben, aber das wurde selbst seinen Kumpanen zu bunt. Was konnte man, wenn auch immer, unter solchen Umständen übel nehmen? Namentlich die Geistlichen zeichneten sich durch mutiges Verhalten aus, meinten sie.

Flucht
Bei Breyell, aber besonders Boisheim, als die Bewachung zeitweise so gut wie ausfiel, hatten Hunderte die Beine in die hand genommen. Ein Einzelner unternahm die Tour zur Grenze allein, aber durchweg formierten sich spontan kleine Gruppen.: „Vater hat immer erzählt, dass der Soldat die Wagentür öffnete und dass Driek Burhenne, ein Scherenschleifer, ihm einen Schubs gab, so dass der Deutsche aus dem Zug fiel. So konnten sie entkommen. Er erzählte, dass er sich mit einem Jungen stundenlang versteckt hielt. Als es dunkel war, ist er hinter der Grenze in Reuver angekommen. In Tegelen wurde er endgültig befreit.“ Ein Pater hielt sich fünf Tage ohne Essen und Trinken in einer Scheine versteckt; dann musste er sich notgedrungen melden. Er hatte Glück. Die deutsche Bauernfamilie war ihm wohlgesonnen und gab ihm zu essen. Zu Fuß kehrte er nach Aachen zurück. Herman Hovens aus Breyell half ebenfalls. Das sickerte durch, aber sein guter Ruf im Ort hielt die Polizei davon ab, tief greifende Untersuchungen anzustellen. Hilfe von der deutschen Grenzbevölkerung war eher die Ausnahme als die Regel. Mancher hielt seine Chancen lieber in der eigenen Hand und sah aus Sicherheitsgründen davon ab. Vorzugsweise durchquerten sie das schwer begehbare Gebiet in der nacht. Überall waren gefährlich tiefe Panzergräben, Stacheldrahtabsperrungen und andere Hindernisse. Trotzdem würden in den nächsten Taen an zahlreichen Orten zwischen Reuver und Venlo kleine Gruppen die Grenze überqueren, aber bis auf einen Einzigen kam niemand weiter als an die Maas. Sicher war es nirgends, und Razzien waren an der Tagesordnung. Während es einigen mit Ach und Krach gelang, sich dem Zugriff der Deutschen zu entziehen, indem sie von einer Untertauchadresse zur anderen zogen, wurden andere nachträglich aufgegriffen oder wurden im Januar oder Februar mit dem Rest der Bevölkerung in die drei nördlichen Provinzen umgesiedelt. Weitaus die meisten Fluchtversuche misslangen. Wie konnte es auch anders sein in dieser feindlichen Umgebung? Die Nachricht vom flüchtenden „Holländer“ verbreitete sich schnell. Leute von der Grünen Polizei und Hitlerjugend suchten die ganze Region ab. Wachsame oder besser fanatische Bürger, Militär, örtliche Polizei, ja sogar Kinder halfen dabei. Polizeizellen, Keller und andere Unterkünfte in Kaldenkirchen, Breyell, Lobberich, Boisheim, Dülken und Viersen waren bald gedrängt voll mit Wartenden.